Paris : Notizen . Wo der Deutsche ohne umfassendes Weltgefühl nicht reifund glücklich wird und wo er darum leicht grenzenlos undproteusartig erscheint, da versteht es der Franzose sich zu kon-zentrieren und in Einem Alles zu haben. Er, der ganz einseitigeNationalist, ist im Weltverkehr der gesuchte Gesellschafter,während der weltbürgerliche Deutsche sehr oft unbequem wird willkommen geheißen und zum Lehrer der gutenForm ernannt; dieser wird mit Mißtrauen betrachtet, weil nie-mand berechnen kann, wie er denken und handeln wird. [DerDeutsche ist in Wahrheit der Faust, der eine Sache


Paris : Notizen . Wo der Deutsche ohne umfassendes Weltgefühl nicht reifund glücklich wird und wo er darum leicht grenzenlos undproteusartig erscheint, da versteht es der Franzose sich zu kon-zentrieren und in Einem Alles zu haben. Er, der ganz einseitigeNationalist, ist im Weltverkehr der gesuchte Gesellschafter,während der weltbürgerliche Deutsche sehr oft unbequem wird willkommen geheißen und zum Lehrer der gutenForm ernannt; dieser wird mit Mißtrauen betrachtet, weil nie-mand berechnen kann, wie er denken und handeln wird. [DerDeutsche ist in Wahrheit der Faust, der eine Sache fahren läßt,wenn er sie hat, der Idealist, der gleich als ein kalter Materialisterscheint, wenn er seine Kraft einmal auf reale Wirklichkeiteneinstellt. Der Franzose ist der geborene Realist, ohne es zuscheinen; der Deutsche scheint es, ohne es zu sein. Dieser mutetkonservativ an und ist im Geiste doch durchaus liberal; Jenererweckt den Eindruck der Liberalität und ist im Grunde dergeborene PATHOS 209 Die politische Erziehung zu allen demokratischen Tugendenkommt hinzu, um dem Pariser Selbstgefühl zu geben. Die Frei-heit und Gleichheit sind ihm bis zu gewissen Graden zur Tatsachegeworden, weil Jeder das Recht des Anderen in dem Maßeachtet, wie er das eigene Recht berücksichtigt wissen will. DerPariser ist höflich, weil er als ein demokratisches Recht Höf-lichkeit von Jedermann fordert. Seine Stellung als Staatsbürgerist gesichert; er braucht sie nicht auf Schritt und Tritt zu ver-teidigen. In ihm ist sehr stark das Gefühl der nationalenWürde ausgeprägt; jeder Einzelne repräsentiert in seinen Um-gangsformen gewissermaßen die ganze Nation. Und der ärmstePariser sogar achtet in sich selbst die Idee seiner Nation. Die allgemeine Abneigung gegen Grübelei, Zweifel und Gren-zenlosigkeit und die Vorliebe für die ruhige Sicherheit liebens-würdiger Formen führt dahin, daß das Gefühlsleben beimPariser in lauter einzelnen Empfindungen vor sich geh


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