Paris : Notizen . elbar hat Leonardo dann vor allem auf dieKunstdenker der folgenden Jahrhunderte gewirkt, auf diemalenden Philosophen und Dichter. Im Gegensatz dazu ist Tizian bis heute der Lehrer allerspezifischen Malernaturen gewesen, die von der äußeren Erschei-nung ausgehen und sich nur von dieser die Gedanken überWelt und Leben eingeben lassen. Diese beiden Großen repräsentieren für den ewigen Dualis-mus der Kunst. Sie stehen wie Symbole da, an einem derwichtigsten Kreuzwege der Malerei: dort nämlich, wo die ausder Freskokunst zum Tafelbild sich entwickelnde Malerei sicheinerseits für di


Paris : Notizen . elbar hat Leonardo dann vor allem auf dieKunstdenker der folgenden Jahrhunderte gewirkt, auf diemalenden Philosophen und Dichter. Im Gegensatz dazu ist Tizian bis heute der Lehrer allerspezifischen Malernaturen gewesen, die von der äußeren Erschei-nung ausgehen und sich nur von dieser die Gedanken überWelt und Leben eingeben lassen. Diese beiden Großen repräsentieren für den ewigen Dualis-mus der Kunst. Sie stehen wie Symbole da, an einem derwichtigsten Kreuzwege der Malerei: dort nämlich, wo die ausder Freskokunst zum Tafelbild sich entwickelnde Malerei sicheinerseits für die nur mittels der Linie und Stilform ausdrück-bare poetisch philosophische Idee entschied und andererseitsfür die nur malerisch, mittels Farben, Valeurs und Flächenlebenwiederzugebende Erscheinung. Beide sind sie Geschöpfe einerZeit, die ihnen viel Gemeinsames gab; aber im tiefsten Wesensind sie polarische Naturen. Leonardo ist der Ideenmensch inhöchster Vollendung; Tizian der Empfindungsmensch. Beide. LEONARDO UND TIZIAN 115 zeigen die Merkmale ihrer Determination: Leonardo hat Tiefe,höchste Abstraktionsfähigkeit und innerhalb einer ungeheurenIntuition mathematisches und psychologisches Formgenie;Tizian hat Gestaltungsfreude, unmittelbare Anschauungsfülle,den naiv sinnlichen Frohsinn am Seienden und die Phantasie derSensibilität. Der Begabung Leonardos droht die Kälte, derTizians die Üppigkeit. Leonardo gestaltet Sibyllen und Pro-pheten, orphisch hohe Wesen, deren Erhabenheit nicht weitvon der Groteske entfernt ist und deren Wesen wie auf eineerhabene Formel gezogen ist; Tizian ist zufrieden, wenn erden Mann männlich, das Weib weiblich, den Stoff stofflich undden Raum räumlich malen kann. Die Legende ist bei ihmnebensächlich; bei Leonardo aber verwandelt sie sich in einenkantisch scharfen Gedanken. Leonardo da Vinci ist so tief, daßer, der auf die begriffliche Linie Angewiesene, die Wichtigkeitder malerischen Anschauung sogar begreift. Aber auch das nurA


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