Edvard Munch . Wie in dem Drama das dem menschlichen Leiden innewohnende Abstossende, ver-klärt und zum Mitleid geführt wird, so auch in der bildenden Kunst. Aus dem Natur-hässlichen entsteht etwas Neues, ein Dissonanzaccord von besonderem Zauber. So ist heutedie Skala des Darstellbaren ins LJnermessliche gestiegen. Unsere Kunst ist reicher, um- fassender als die Kunst der Alten. Und die Grössten von Dürer, Grünewald, Rembrandt bisauf Liebermann, Degas, Rodin haben gerade in ihrer Stellungnahme zum hässliehen dasUmfassende in ihrer Kunst gezeigt. Man vergleiche nun z. B. Rodins belle Heaulmier
Edvard Munch . Wie in dem Drama das dem menschlichen Leiden innewohnende Abstossende, ver-klärt und zum Mitleid geführt wird, so auch in der bildenden Kunst. Aus dem Natur-hässlichen entsteht etwas Neues, ein Dissonanzaccord von besonderem Zauber. So ist heutedie Skala des Darstellbaren ins LJnermessliche gestiegen. Unsere Kunst ist reicher, um- fassender als die Kunst der Alten. Und die Grössten von Dürer, Grünewald, Rembrandt bisauf Liebermann, Degas, Rodin haben gerade in ihrer Stellungnahme zum hässliehen dasUmfassende in ihrer Kunst gezeigt. Man vergleiche nun z. B. Rodins belle Heaulmiere, jene ausgemergelte, zum Skelettabgemagerte Gestalt, deren einstiger Schönheit die hängenden Brüste, die welke Hand, dergeschwollene Leib Hohn sprechen, mit Munchs alten Spitalweibern, mit den Scenen aus dem Sterbe-zimmer, und man wird bei beiden Künstlern finden, wie durch den AnblickStröme von Empfindungendes Erbarmens und Mitleidens sich in uns ergiessen. Mag Munch uns den Neidischen, den von. Angst Ueberwältigten darstellen: immer werden wir, auch bei den niedrigsten Affekten vonseiner Kunst angezogen. Ein solches Blatt ist auch das von der toten Mutter. Wie ausMarmor gemeisselt, ragt das bleiche Haupt der Toten aus dem Bette heraus. Das Kind, dassich ihr ahnungslos genähert, wird beim Anblick des Todes vom Grauen erfasst. Mit weitaufgerissenen Augen wendet es sich; es will schreien, kann aber nicht. Nur alle Muskelndes Gesichtes verziehen sich krampfartig vor Angst, während sich die Aermchen heben. Sosteht es da, ein furchtbarer Anblick. Nur Dürer oder Rethel vermochten solche tragischen Accorde in unserer Brust anzuschlagen. 12
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